Regenbogen Wohnen eröffnet neuen Fachbereich für Menschen mit der Doppeldiagnose psychische Erkrankung  / Suchterkrankung

 

Das Sommerfest, der Grillabend, der Geburtstag unter Kollegen: Dass Alkohol noch immer fest in unserer Gesellschaft verankert ist, ist unumstritten. Die Grenze zwischen Genuss und Sucht ist dabei eine schmale: rund 14 % der Frauen und 18 % der Männer trinken laut Robert-Koch-Institut Alkohol in „riskanten Mengen“. Umso erstaunlicher, dass jahrelang nur Abstinenz, also das komplette Vermeiden von Alkohol und alkoholhaltigen Lebensmitteln, als die einzige Möglichkeit galt, Sucht zu „behandeln“.
Die Folge? Heimlicher Konsum, Scham und eine Abwärtsspirale, aus der viele keinen Ausweg mehr finden – ob aus Angst vor den Reaktionen ihres Umfelds oder aus Angst vor dem drohenden Entzug von dem Suchtmittel, das zur Gewohnheit geworden ist.

Höchste Zeit, einen neuen Weg zu gehen, dachte sich einmal mehr das Team von Regenbogen Wohnen: Als sich vor zwei Jahren die Möglichkeit ergab, das bestehende Areal der besonderen Wohnformen in Ruhpolding zu erweitern, begannen die Leiterin des Fachdienstes, Maria Thomaser, und das Führungsduo am Unternehmensstandort Ruhpolding, Violetta Frank und Katrin Henoch, zu recherchieren und stießen auf ein spannendes Projekt: Die „Sonnenburg“ in der Schweiz bietet Männern mit Suchterkrankung ein Zuhause. Das Konzept dahinter? Zieloffene Suchtarbeit.

„Spannend!“, dachten sich Violetta Frank und ihr Team, und begannen, sich einzulesen. „Es ist wichtig, sich heute zu spezialisieren, um den Klient:innen individuell gerecht werden zu können und die richtigen Angebote für Menschen zu schaffen, denn viele Menschen kommen mit immer differenzierten Erkrankungsbildern zu uns“, sagt Frank. Gerade die jungen Klient:innen seien oft schwer erkrankt, kommen mit Mehrfachdiagnosen und benötigen eine adäquate Versorgung – unter anderem eben eine Möglichkeit zur Suchthilfe.

Die können Frank und das Team von Regenbogen Wohnen seit 2023 nun bieten: 15 Plätze für Menschen mit der Doppeldiagnose psychische Erkrankung / Suchterkrankung, Schwerpunkt Alkohol, stehen im ehemaligen Alten- und Pflegeheim St. Adelheid in Ruhpolding nun zur Verfügung.

„Der Bedarf ist riesig“, sagt Frank, täglich kämen neue Anfragen von Kliniken, Angehörigen, gesetzlichen Betreuer:innen oder den Betroffenen selbst.
Doch das besondere Programm, das vom Institut für innovative Suchtbehandlung und Suchtforschung (ISS) eng begleitet wird, kommt nicht für jeden infrage. „Im Vorgespräch klärt meine Kollegin Katrin Henoch ganz ausführlich viele Themen, vor allem natürlich die Sichtweise des/der Betroffenen zum Alkohol“, erklärt Frank.

Für die Aufnahme im Bereich der Zieloffenen Suchtarbeit, sollten die Menschen bereit sein, sich aktiv mit ihrer Alkoholerkrankung auseinander zu setzen.

„Zieloffen“ bedeutet also, dass der/die Betroffene sich selbst eines oder mehrere Ziele (Schadensminderung, Konsumreduktion oder Abstinenz) setzt und dabei begleitet wird, diese(s) zu erreichen – im Gegensatz zur abstinenzorientierten Arbeit, bei der dem Menschen mit Suchterkrankung sein Ziel (Abstinenz) von außen vorgegeben wird.
Immer wieder wird dabei genau beobachtet, an welchen Parametern, in welchen konkreten (Lebens-)Situationen die Zielsetzung „ins Wanken gerät“, was Auslöser sein können, seine Ziele aus den Augen zu verlieren – und wie der Klient oder die Klientin damit beim nächsten Mal umgehen kann. Auslöser sind nicht selten Feste und Feiern, Anlässe, bei denen in unserer Kultur spontanes und emotionales Verhalten erlaubt und erwünscht waren und wofür nun neue Formen gefunden werden.

Art des Alkohols, die vereinbarte Alkoholmenge, die Promillegrenze, die Zeiten und Orte, an denen getrunken wird – all das legen die Klient:innen gemeinsam mit den Mitarbeiter:innen im Vorfeld fest. Wenn dann eine oder mehrere dieser Vereinbarungen nicht eingehalten werden, geht es an die Ursachensuche.

Violetta Frank empfindet die Zieloffene Suchtarbeit als sehr anspruchsvoll für Betreuungspersonal, aber vor allem natürlich für die Klient:innen selbst:

„Man muss sehr genau und sehr individuell hinsehen, immer wieder nachjustieren, immer im Gespräch bleiben.“ Besonders in den ersten beiden Monaten sei sehr viel Beziehungsarbeit notwendig und erwünscht. Oft justieren die Klient:innen ihre Ziele dann nochmal neu. „Die meisten Betroffenen kennen bisher nur das abstinenzorientierte Arbeiten“, erklärt Frank. Oft sei heimliches Trinken und eine große Scham die Folge – dies müsse zuerst überwunden werden, um dann einen anderen Bezug zum Alkohol herstellen zu können.

Auch sie und ihre Kolleg:innen hätten zunächst Vorbehalte gehabt, mit dem Thema Suchterkrankungen zu arbeiten, gesteht Frank. Heute finde sie es großartig, dass auch in diesem Bereich neue Konzepte erschlossen werden, um passende Therapieformen anzubieten. Dabei gibt es sowohl Erfolgsgeschichten als auch Persönlichkeiten, zu denen das Konzept der ZOS nicht passt.

So gab es bereits sowohl Klient:innen, die mit der Freiheit überhaupt nicht umgehen konnten – und bald in eine abstinenzorientierte Einrichtung in der Nähe umzogen und sich dort sehr wohlfühlen. Andere konnten, nach gescheiterter abstinenzorientierter Therapie, erfolgreich in Ruhpolding einen Ort zum Leben und Sein finden.

Damit auf Basis der Erfahrungen das Gesamtkonzept immer wieder angepasst werden kann, neue Erkenntnisse aus dem Alltag einfließen können und auch die Mitarbeitenden immer „mitgenommen“ werden, investiere Regenbogen Wohnen viel in die fachliche Ausbildung und Begleitung. Dabei hat das Sozialunternehmen das ISS an seiner Seite, das nicht nur die Implementierung des ZOS-Konzeptes in Ruhpolding in Form eines umfangreichen Workshops betreute, sondern auch jetzt in Form eines „Organisationsradars“ immer wieder den Status quo, mögliche Probleme und passende Lösungen ermittelt. Auch weitere Expertenschulungen, zum Beispiel zur „Motivierenden Gesprächsführung“ und „Kontrolliertes Trinken“, seien geplant.

Denn der Erfolg dieses Konzeptes steht und fällt auch mit der Ausbildung und Haltung der Mitarbeitenden: Alle Kollegen hätten schon viel aus den Workshops mitgenommen und zeigen sehr großes Interesse, sich weiter in die Thematik der Zieloffenen Suchtarbeit einzuarbeiten, erzählt Violetta Frank. Die nun nach der ersten Orientierungsphase geplanten Supervisionen und die Möglichkeit sich immer wieder als Team und sich selbst zu reflektieren, werden weiter dazu beitragen.

Das Credo, mit dem man den Menschen mit Suchterkrankung begegnen wolle, „sanktionsfrei, auf Augenhöhe und ohne Vorbehalte die Ziele zu erkunden“, sei schließlich in allen Lebensbereichen förderlich.

Für wen ist das Konzept in Ruhpolding geeignet?

Die zieloffene Suchtarbeit in besonderer Wohnform in Ruhpolding ist für volljährige Personen mit einer psychischen Erkrankung oder einer seelischen Behinderung in Verbindung mit problematischem Alkoholkonsum vorgesehen.
Aufgenommen werden Frauen und Männer ab dem 21. Lebensjahr ohne Altersbegrenzung. Klient:innen bedürfen keiner stationären klinischen Behandlung mehr, sind jedoch aus verschiedenen Gründen momentan nicht in der Lage, sich selbstständig zu versorgen und brauchen deshalb Unterstützung bei der Bewältigung verschiedenster alltäglicher Lebenslagen.

Dies können Menschen mit folgenden Beeinträchtigungen sein:

  • Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis inkl. schizo-affektiver Störungen
  • Major Depression und bipolare Störungen
  • Schweren Persönlichkeitsstörungen und/oder schweren neurotischen Erkrankungen
  • Mehrfachdiagnosen

bei gleichzeitig bestehender komorbiden Erkrankung, insbesondere bei problematischem Alkoholkonsum.

Katrin Henoch

Stellvertretende Einrichtungsleitung

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Fachtag ZOS in Nürnberg

Regenbogen Wohnen hat am Fachtag Zieloffene Suchtarbeit teilgenommen und einen Vortrag zum Thema Öffentlichkeitsarbeit gehalten.

Wir freuen uns, dass sich mit Regenbogen Wohnen in Ruhpolding ein weiterer Träger in Richtung Zieloffene Suchtarbeit (ZOS) aufmacht, um den Bedürfnissen vieler Menschen mit einer Suchtmittelproblematik neue Möglichkeiten anzubieten. Wir sind davon überzeugt, dass sich zunehmend mehr Einrichtungen im Sozial- und Gesundheitswesen eine Veränderung zutrauen und sich der ZOS öffnen werden.

Schön, dass in Ruhpolding nun ein tolles Projekt entstanden ist. In den bisherigen Veranstaltungen zeigte das Team ein großes Interesse an der Weiterentwicklung der ZOS und wir freuen uns auf eine weiterhin gelungene Zusammenarbeit mit Regenbogen Wohnen!

Matthias Nanz

Geschäftsführung, ISS Nürnberg

Aspekte Zieloffener Suchtarbeit

Institut für innovative Suchtbehandlung und Suchtforschung (ISS)

„Trust in you, we do!“ heißt es auf der Webseite des ISS. Das Institut hat sich zur Aufgabe gemacht, aufzuklären über die Möglichkeiten der Suchtbehandlung. Dabei geht es von drei möglichen Zielrichtungen aus (Abstinenz, Konsumreduktion, Schadensminderung), die jeder suchtbelasteten Person vorgehalten werden sollten.

Diese drei Bestandteile charakterisieren den Ansatz Zieloffener Suchtarbeit (ZOS):

  1. Bestandsaufnahme aller konsumierten Substanzen
  2. substanzweise Abklärung der Änderungsziele und
  3.  Vorhalten von Behandlungsangeboten, die den Änderungszielen der betroffenen Menschen entsprechen.

ZOS stellt somit eine grundlegende Art und Weise dar, Suchtarbeit zu verstehen und zu praktizieren.

Die Vorteile von ZOS reichen von der Erhöhung der Erreichungsquote suchtbelasteter Menschen über die Beachtung ethischer Maximen bis zur Verbesserung des Behandlungserfolgs.

Der Ansatz der ZOS hat Relevanz für alle Arbeitsfelder, in denen sich Menschen mit Substanzkonsumstörungen befinden – neben der Suchthilfe im engeren Sinne auch für das medizinische und psychotherapeutische Versorgungssystem, die Wohnungslosen- und Straffälligenhilfe, (sozial-) psychiatrische Einrichtungen, die Verkehrstherapie u.a.m.

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