Was ist NeuroDeeskalation – und worin liegt der Unterschied zur klassischen Deeskalation?
Deeskalation ist ein sehr breit gefasster Begriff. Das kann Selbstschutz oder Selbstverteidigung sein, der Abbruch einer Situation oder das Arbeiten mit bestimmten ablaufbasierten Modellen, etwa ProDeMa – professionelles Deeskalationsmanagement.
Der große Unterschied zur NeuroDeeskalation ist:
Hier steht nicht der Schutz vor dem Anderen im Mittelpunkt, sondern die Regulation des Anderen durch meine eigene Haltung und Regulation.
Ziel ist es, die subjektiv wahrgenommene Bedrohung zu senken, sodass Eskalation gar nicht erst in ihrer Vollständigkeit entsteht oder schneller abklingt.
NeuroDeeskalation bedeutet, den Menschen nicht als Problemträger zu sehen, sondern ihn in seinem Nervensystem zu verstehen: Was löst die Reaktion aus?
Wie kann ich ihm helfen, wieder ins Bindungssystem zu kommen?
Kern der Methode ist: Deeskalation beginnt bei mir. Ich muss selbst reguliert sein, um andere regulieren zu können.
Das ist ein echter Paradigmenwechsel – und das Herzstück der NeuroDeeskalation.
Wer hat die NeuroDeeskalation entwickelt?
Die Methode wurde 2007 von Dr. Christoph Göttl, einem Kinder- und Jugendpsychiater aus Österreich, entwickelt. Er arbeitete in einer Klinik mit häufigen Fixierungen und Zwangsmaßnahmen – das ist auch heute noch ein großes Thema in pädagogischen Einrichtungen, gerade auch in Kinder- und Jugendpsychiatrien, aber sicherlich auch in Erwachsenenpsychiatrien und in vielen Einrichtungen – und suchte nach einem anderen Weg.
Er kombinierte neurobiologische Erkenntnisse mit Traumatherapie, Bindungstheorie und körperorientierten Ansätzen. 2015 entstand daraus ein interdisziplinäres Team – heute ist NeuroDeeskalation eine Bewegung.
Wann kommt NeuroDeeskalation zur Anwendung?
Ursprünglich in Akutsituationen – z. B. wenn Kinder in Eskalationen schreien, sich selbst verletzen oder dissoziieren.
Doch heute geht es um viel mehr: NeuroDeeskalation ist eine Haltung. Sie beeinflusst, wie ich Menschen begegne – nicht nur in Krisen.
Was unterscheidet NeuroDeeskalation von anderen Ansätzen?
Andere Programme arbeiten oft mit festen Abläufen: Schritt A, dann B und hat primär den Selbstschutz im Fokus. NeuroDeeskalation ist prozessorientiert. Es geht darum, wie kann ich mein Nervensystem regulieren und über meinen Körper so viel Sicherheit ausstrahlen, um Kontakt mit meinem Gegenüber herzustellen – auch ohne Sprache. Ich frage mich: Was hat das mit mir zu tun? Was war mein Anteil an der Eskalation? Was kann mein Anteil in der Deeskalation sein?
Ist die Methode besonders für Kinder und Jugendliche geeignet?
Nein – sie ist für alle Menschen geeignet. Denn sie basiert auf universellen neurobiologischen Prinzipien. Sie wirkt im Hirnstamm und limbischen System – bei jedem gleich, unabhängig von Alter oder Einschränkungen.
Sie wird in forensischen Einrichtungen, Psychiatrien, der Kinder- und Jugendhilfe und im privaten Umfeld angewendet.
Wie lebt ihr NeuroDeeskalation bei Regenbogen Wohnen?
Als wir 2015 mit unserer Einrichtung gestartet sind, wollten wir bewusst neue Wege gehen – ohne starre Hierarchien und Machtstrukturen. 2021 haben wir die Methode kennengelernt und waren sofort überzeugt.
Wir – Carolin Obinger und ich – haben die Ausbildung zur Neurodeeskalation-Practitioner und anschließend zur NeuroDeeskalations-Trainerin gemacht und in Teamsitzungen erste Inhalte vermittelt. Ziel war: alle Mitarbeitenden sollen die gleiche Sprache sprechen – z. B. verstehen, was es heißt, „rot“ oder „grün“ zu sein.
Die Wirkung war deutlich spürbar: weniger Eskalationen, kürzere Krisen, mehr Vertrauen, weniger Übergriffe. Kinder berichten, dass sie sich sicherer fühlen.
Und: Die Arbeit wurde spürbar leichter. Keine stundenlangen Eskalationen mehr, keine Ohnmacht – sondern klare Handlungssicherheit.
Wie läuft eine Schulung zur NeuroDeeskalation ab?
Zunächst klären wir: Was passiert bei einer Eskalation im Gehirn? Dann geht es darum: Wie kann ich mich selbst regulieren? Welches Körperwissen hilft mir? Auch die Schulungen sind sehr prozessorientiert und kein Seminar läuft gleich ab.
Der wichtigste Satz: Es beginnt bei mir.
Wir arbeiten mit echten Fällen aus dem Alltag, nicht mit theoretischen Szenarien. Diese systemischen Rollenspiele führen oft zu Aha-Momenten – z. B. wenn jemand erkennt, dass ein kurzer Körperkontakt oder akustischer Reiz mehr bewirkt als viele Worte.
Wir vergleichen es gerne mit einem, der im brennenden Haus steht und dann kommt der Feuerwehrmann und suggeriert mir, es ist okay und ich führe dich raus. Das kann durch sehr eindeutige Körpersprache und durch klare Guidance gelingen.
Wenn ich als Feuerwehrmann aber frage: „Wollen Sie das Sprungtuch nehmen oder lieber die Drehleiter oder robben wir über den Boden? Was ist Ihnen gerade am liebsten?“ – dann kann das nicht funktionieren. Um Entscheidungen zu treffen, brauche ich das Großhirn. Habe ich nicht zur Verfügung in der Notsituation. Heißt, ich brauche einen Feuerwehrmann, der zu mir sagt: „Wir nehmen die Drehleiter“. Diese Feuerwehrleute wollen wir sein.
Gibt es ein Beispiel aus der Praxis, das Sie besonders berührt hat?
Ja, eine junge Frau, die inzwischen alleine wohnt, aber noch betreut wird. Sie hat sich in einer Krise befunden, in die Klinik begeben und hat gesagt: „Okay, jetzt ist der Zeitpunkt, da habe ich es nicht mehr selber gut im Griff.“ Dort sollte sie eine Notfallmedikation verabreicht bekommen – oft ein letzter Ausweg, der aber viele Nach- und Nebenwirkungen hat. Und die junge Erwachsene hat mich angerufen und hat gesagt: „Sabrina, kannst du bitte einfach nur fünf Minuten am Telefon bleiben, weil ich weiß, wenn ich jetzt einen Kontakt habe, dann brauche ich keine Medikamente.“ Und das ist schon cool. Also wenn jemand gelernt hat, Kontakt kann mich so regulieren, dass ich keine Medikation brauche. Das ist echt ein Gänsehaut-Moment.
Aber auch im Alltag sehen wir es oft: Ein fröhliches „Guten Morgen“ kann ein Kind völlig anders in den Tag starten lassen. Oder Jugendliche, die zum ersten Mal Körperkontakt zulassen, weil sie spüren: Da ist jemand, der bleibt und nicht bewertet.
Was verändert sich langfristig durch NeuroDeeskalation bei Regenbogen Wohnen?
Wir führen kaum noch Diskussionen darüber, ob jemand in unser System passt. Stattdessen fragen wir: Wie können wir die Beziehung gestalten – welches Bedürfnis hat unser Gegenüber?
Mitarbeitende fühlen sich sicherer, handlungsfähiger – selbst in herausfordernden Situationen.
Die innere Haltung stärkt auch den Gewaltschutz – und schützt die Fachkräfte selbst. Ich bin wirklich überzeugt davon, dass die innere Belastung abnehmen wird, weil es super viel Energie kostet, in so hochanstrengenden Situationen dabei zu sein. Wenn ich aber stattdessen erlebe, okay, ich kann jemanden begleiten und dadurch verändert sich etwas, komme ich weg von den Gedanken, hier muss ich was gewinnen und steige aus dem Machtgefälle aus Auch Macht ist eine Stressreaktion. Das ist sicherlich für meine innere Gesundheit ein Gamechanger.
Und was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Dass NeuroDeeskalation sich weiterverbreitet. Dass mehr Fachkräfte erkennen: Ich kann etwas verändern – bei mir selbst und dadurch bei anderen.
Und dass wir von dem Gedanken weg kommen, dass Menschen aufgrund ihres Störungsbildes, aufgrund ihrer Biografie, oder äußerer Umstände nicht mehr therapierbar sind und damit irgendwann auf ein Abstellgleis kommen, sondern tatsächlich immer was möglich ist. Manchmal in minimalen Dosen, aber selbst minimale Dosen verändern was.
Wenn sich diese Haltung durchsetzt, entstehen sichere, heilsame Orte – und Systeme müssen gar nicht mehr kollabieren. Das wünsche ich mir.

Ihre Ansprechpartnerin: Sabrina Kreitmaier
kjh.leitung@rebo-wohnen.de
NeuroDeeskalation in der Regenbogen Wohnen Akademie
Sabrina Kreitmaier und Carolin Obinger führen Kolleg*innen im Rahmen einer Schulung in die Methode der NeuroDeeskalation ein.
Mitarbeitende von Regenbogen Wohnen und externe Teilnehmende aus sozialen Einrichtungen können am Akademieangebot teilnehmen. Während einige Seminare verpflichtend sind, stehen andere zur freien Verfügung. Alle relevanten Informationen zur Anmeldung sind auf der Webseite einsehbar.
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